Rede von Prof. Dr. Gudrun Hentges auf der Kölner Kundgebung zur Reichspogromnacht
22. November 2018
Wir gedenken heute der Pogromnacht vor 80 Jahren.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden in Köln – wie auch im gesamten Reichsgebiet und in Österreich unzählige Wohnungen und Geschäfte von Juden verwüstet, jüdische Familien wurden in ihren Wohnungen überfallen, misshandelt und ermordet, hunderte Kölner Juden wurden verhaftet und im Konzentrationslager Dachau inhaftiert, die Synagogen in der Roonstraße, der Glockengasse und der Körnerstraße wurden in Brand gesteckt, die Synagoge in der St. Apern Straße wurde verwüstet; zerstört wurden die Synagogen in Mülheim und Deutz. Wenige Tage später, am 12. November 1938, wurde die vollständige Enteignung der Juden beschlossen.
Wie Raul Hilberg in seinen Forschungen zeigen konnte, wurde diese Pogromnacht Schritt für Schritt vorbereitet:
Zunächst durch die Ausbürgerung von deutschen Juden, dann durch die Entlassung von jüdischen Beamten (Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, 1933), gefolgt von den Nürnberger Gesetzen (1935), die Eheschließungen zwischen Juden und Nicht-Juden verboten haben.Diese erste Phase der Diskriminierung und Entrechtung kulminierte in den Novemberpogromen des Jahres 1938. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Novemberpogrome nicht Ausdruck eines spontanen Volkszorns waren – nicht aus heiterem Himmel kamen – sondern ideologisch vorbereitet worden waren.
Zufrieden damit, dass die antisemitische Propaganda in der sog. Reichskristallnacht kulminierte, bilanzierte Hitler am folgenden Tag (10. November 1938):
„Diese Arbeit hat Monate erfordert, sie wurde planmäßig begonnen, planmäßig fortgeführt, verstärkt.“
(Hitler-Rede am 10. November 1938).
Diese Pogrome waren also von langer Hand vorbereitet worden und sie wurden von den NS-Führern organisiert. Dessen ungeachtet profitierten aber auch die nicht-jüdischen Nachbarn von Entrechtung und Vertreibung:
Wie Wolfgang Dreßen in seiner Ausstellung „Aktion 3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn“ (2010) auf Basis von Akten der Oberfinanzdirektion Köln eindrücklich nachweisen konnte, waren die nicht-jüdischen Nachbarn sehr wohl Nutznießer der Enteignung bzw. „Arisierung“ jüdischen Eigentums. So wurde etwa das Finanzamt Köln von der Bevölkerung belagert – in der Hoffnung, günstig Immobilien oder andere Wertgegenstände erwerben zu können. Diese Belagerung war so stark, dass das Finanzamt die Kölner Bevölkerung darum bitten musste, von weiteren Besuchen abzusehen. Die Pogromnacht und die folgenden Vertreibungen und Deportationen boten also auch den nicht-jüdischen Nachbarn eine Chance, sich zu bereichern.
75 Jahre hat es gedauert, bis 2010 diese Tatsachen ans Tageslicht befördert wurden.
Ein Skandal!
Stück für Stück mussten engagierte Menschen Spurensuche betreiben, um die Verstrickungen offen zu legen.
Als Hochschullehrerin habe ich eine besondere Verantwortung dafür, junge Menschen zu einem kritischen Denken zu befähigen und sie darauf vorzubereiten, u.a. engagierte Lehrer_innen zu werden.
Deshalb frage ich mich immer wieder aufs Neue:
Vor welchen Herausforderungen stehen Bildungssysteme heute – in einer Zeit, in der die AfD Meldeportale schaltet und Schüler_innen zur Denunziation unliebsamer Leher_innen aufruft.
Erinnern will ich an dieser Stelle an Adorno:
„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“
Als ich im April diesen Jahres zusammen mit Studierenden und Kolleg_innen des Teams „School is open“ eine studentische Exkursion nach Israel durchführte, besuchten wir auch Fanny Englard (1925), eine Kölner Überlebende der Shoah. In Köln geboren, lebt sie heute als 93-Jährige in der Nähe von Tel Aviv.
Immer wieder und wieder betonte sie in dem Gespräch mit uns, sie wolle uns zu ihren Botschaftern machen. Und sie hat uns das Versprechen abgenommen, über ihr Schicksal zu berichten. Das, was sie erlebt habe, dürfe nie wieder passieren. Das sei sie den Ermordeten der Shoah schuldig; das sei sie ihrer Familie schuldig …
Heute vor 80 Jahren lebte Fanny Englard in dem jüdischen Kinderheim in Köln; ihre Mutter war kurz zuvor nach Polen ausgewiesen worden. Fanny erinnert sich daran, dass plötzlich die Erzieher kamen und zu den Kindern sagten, sie dürften nicht mehr die Tür öffnen. Fanny und die anderen Kinder konnten dies nicht verstehen, bis sie den tobenden Mob auf der Straße hörten. Erst einige Tage später durfte Fanny wieder auf die Straße gehen. Dann erst sah sie, was die Nazis alles zerstört hatten: Ihr jüdisches Gymnasium Javne war verwüstet und die Synagoge war komplett abgebrannt. Im Interview sagte sie: „Ich habe damals nicht geahnt, dass kurze Zeit später auch wir Menschen brennen würden.“
An dieser Stelle möchte ich den Wiener Schriftsteller Michael Köhlmeier (2018) zitieren: „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan.“
Heute, 80 Jahre später, gedenken wir der Ereignisse des 9. November wir gedenken der 11 polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiter, die an dieser Stelle am 25. Oktober 1944 hingerichtet worden sind, wir gedenken der 13 Edelweißpiraten, die am 10. November 1944 ebenfalls an dieser Stelle gehängt worden sind, die drei Jüngsten waren erst 16 und 17 Jahre alt, unter ihnen auch Batholomäus Schink (1927).
Umso wichtiger ist dieses Gedenken in einer Zeit, in der die AfD in allen Parlamenten vertreten ist, in der u.a. Mitglieder der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ und ehemalige Nazi-Kader als AfD-Mitarbeiter im Bundestag und in den Landtagen arbeiten, in der Woche für Woche in Dresden immer noch Leute unter der Fahne von Pegida auf die Straße gehen, um Lutz Bachmann, Björn Höcke oder Götz Kubitschek zuzujubeln, die sich mit rassistischen, antisemitischen und geschichtsrevisionistischen Äußerungen hervortun, in der Björn Höcke und Lutz Bachmann Schulter an Schulter in Chemnitz marschieren. Sarrazins Erben lassen grüßen …
In den 90er-Jahren gab die Jugendorganisation der NPD, die Jungen Nationaldemokraten, die Devise aus
Kampf um die Straße
Kampf um die Köpfe
Kampf um die Parlamente.
Und heute?
Pegida und die Identitären tummeln sich auf der Straße oder verteidigen unter dem Motto „Defend Europe“ die Festung Europa im Mittelmeer oder an den EU-Außengrenzen,
das Institut für Staatspolitik versucht durch Agitation und Propaganda Jugendliche und junge Erwachsene im Sinne der Neuen Rechten zu beeinflussen, um die Köpfe der Menschen zu erobern, die AfD sitzt in den Parlamenten, im Europaparlament, Bundestag, in den Landtagen, Kommunalparlamenten.
Wir haben es heute nicht mehr damit zu tun, dass eine einzige Partei oder eine einzige Bewegung am rechten Rand existiert, so wie dies noch in den 90er Jahren der Fall war (REPs). Vielmehr hat sich ein ‚Identitäres Netzwerk‘ gebildet, so auch der Titel eines neuen Bands von Andreas Speit. Die Rechten gehen arbeitsteilig vor, sie nutzen zugleich Synergieeffekte und sind damit leider – derzeit – recht erfolgreich.
Aber was sind die Ursachen dieser Konjunkturen am rechten Rand?
Auch heute ist diese „Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei“ unumstritten, aber welche weiteren gesellschaftlichen Veränderungen sind erforderlich, um eine Gesellschaft zu schaffen, die auf Solidarität statt auf Konkurrenz beruht, die unteilbar ist, statt soziale Gruppen gegeneinander auszuspielen, die allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, statt immer wieder Ausgrenzung, prekäre Lebenslagen, Armut zu produzieren?
Wir brauchen eine emanzipatorische Gesellschaftspolitik, die nicht immer wieder zwischen dem „innen“ und dem „außen“ unterscheidet, zwischen der vermeintlichen Eigengruppe und der vermeintlichen Fremdgruppe, die deutlich macht, dass es in unserer Gesellschaft ein unten und ein oben gibt, und eine Politik, die Fragen der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu den zentralen Fragen der Zukunft macht.
Wir brauchen neue soziale Bewegungen, die die soziale Frage thematisieren, und dies nicht der sozialen Demagogie der extremen Rechten überlassen.
Denn: Eine Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, kann auf lange Sicht keine konsistente Gesellschaft sein. Sie muss immer wieder Ausgrenzung, Marginalisierung und Prekarisierung produzieren.
Ich möchte appellieren
- an ein solidarisches Miteinander in Stadteilen, Nachbarschaftsinitiativen, Schulen, Betrieben, Bildungseinrichtungen,
- an eine Willkommenskultur und Willkommensstruktur,
- an eine breite Bewegung zur Demokratisierung von allen Lebensbereichen,
- an antirassistische und antifaschistische Initiativen und Organisationen in den Stadtteilen.
Ermutigend waren die großen Demos, die im Oktober in Hamburg, Köln, Berlin und in anderen Städten deutlich gemacht haben:
Solidarität ist unteilbar.
Wir sind mehr!