80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion

20. Juni 2021

Wir dokumentieren die Rede von Ulrich Schneider (Generalsekretär des FIR) bei der Demonstration in Köln:

Wenn wir heute aus deutscher Perspektive an den Überfall auf die Sowjetunion, den so genannten „Fall Barbarossa“ erinnern, dann müssten wir über viele Aspekte sprechen:

Über die praktische und ideologische Kriegsvorbereitung, über die verbrecherische Durchführung mit ihren Kriegsverbrechen, die Behandlung der Kriegsgefangenen und die Ausplünderung der Sowjetunion, der besondere Charakter dieses Krieges als ideologisch legitimierter Vernichtungskrieg gegen den „jüdischen Bolschewismus“ bis zum Prinzip der „verbrannten Erde“ beim von der Roten Armee erzwungenen Rückzug.

Ulrich Schneider (FIR) Bild: © Jochen Vogler / r-mediabase

Aus diesen vielen Perspektiven möchte ich nur drei herausgreifen, die m.E. in der öffentlichen Debatte in der Regel zu kurz kommen.

Vergessen“ wird in aller Regeln, dass schon das zaristische Russland in der Expansionsplanung der aggressivsten Kräfte im Kaiserreich, beim „Alldeutschen Verband“, eine zentrale Rolle gespielt hat. So gehörte aus deren Sicht schon damals das gesamte Baltikum bis Sankt Petersburg zur originären deutschen Herrschaftszone. Während die Schwarzerde-Region der heutigen Ukraine als erweiterte „Kornkammer“ des Deutschen Reiches angesehen wurde. Man sieht also, verschiedene geostrategische Ziele und Begründungen der faschistischen Aggression waren schon Jahrzehnte auf der Agenda des deutschen Imperialismus bei seinem Griff nach der Weltmacht.

Adolf Hitler reproduzierte in seinen Großmachtvorstellungen, wie er sie 1924 in „Mein Kampf“ niederschrieb, eigentlich nichts anderes, als durch die politisch und ökonomisch einflussreichen Kräfte des kaiserlichen Deutschlands längst vorgedacht war. Er ergänzte diese Überlegungen jedoch – mit Blick auf die revolutionäre Entwicklung in Russland und den Aufbau der Sowjetunion – um die antibolschewistische Komponente, die bei ihm und in der Ideologie der faschistischen Bewegung insgesamt in dem Feindbild der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ zusammenlief, deren Hort das „Weltjudentum“ und die Sowjetunion war.

Allein schon deshalb war es für die faschistische Herrschaft prinzipiell ausgeschlossen – von allen kurzfristigen taktischen Umwegen abgesehen – zu einer Verständigung mit der UdSSR zu kommen, die ein gemeinsames Arrangement bezogen auf die Einflussverteilung in der Welt ermöglichte.

Wer so etwas behauptet – und die Gleichsetzung von Hitler und Stalin bzw. des faschistischen Deutschland und der Sowjetunion war in der Zeit des Kalten Krieges in den 1950er und 1960er Jahre in unserem Land durchaus propagandistischer Standard, sie zeigt sich jedoch auch jüngst in der Erklärung des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 – wer also so etwas behauptet, der ignoriert bewusst die historischen Fakten und versucht, die politische Verantwortung für die faschistische Aggression quasi „gleichmäßig auf beide Seiten“ zu verteilen.

Wer die historischen Fakten ernsthaft betrachtet, kann gar nicht anders, als festzustellen, dass es beim Überfall auf die Sowjetunion um eine Expansion im Sinne langfristiger Kriegszielplanung des deutschen Faschismus/ Imperialismus ging.

Bild: © Jochen Vogler / r-mediabase

Auch ein zweiter Fakt wird in der öffentlichen Erinnerung gerne „vergessen“:

Nach den militärischen Erfolgen der deutschen Wehrmacht gegen Polen, in Skandinavien und an der Westfront gab Adolf Hitler für die Reichsregierung am 21. Juli 1940 die Weisung zur Erarbeitung einer Angriffsplanung gegen die Sowjetunion an die Wehrmachtsführung. Das war gerade einmal ein Jahr nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags, der bekanntlich im September 1939 durch einen „Freundschaftsvertrag“ ergänzt worden war. Es wäre ein eigenes Thema, über diesen Vertrag und sein Zustandekommen zu sprechen, aber aus der Sicht der Sowjetunion war es allein eine strategische Option, die von dem Denken geprägt war, „Wer per Handel die Waren bekommt, die er benötigt, der wird dafür keinen Krieg führen.“ Wie illusionär diese Überlegung der sowjetischen Außenpolitik war, mussten die Menschen in der Sowjetunion ab Sommer 1941 grausam erleben.

Schon Anfang Dezember 1940 fand eine Beratung der Reichsregierung mit der Generalität zur Ausgestaltung der Kriegsplanung gegen die Sowjetunion statt, bevor am 18. Dezember 1940, also ein halbes Jahr vor dem eigentlichen Überfall der Plan „Fall Barbarossa“ vorgelegt werden konnte.

Speziell für diesen Feldzug wurden „Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland“ verfasst, mit denen die einzelnen Soldaten und örtlichen Kommandeuren nicht nur Handlungsfreiheit erhielten, sondern aktiv zu Kriegsverbrechen aufgefordert waren. Wörtlich heißt es in dem „Straffreiheitserlass“ vom 13. Mai 1941: „Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jeden aktiven und passiven Widerstandes … gegenüber allen Angehörigen der Roten Armee – auch den Gefangenen – ist äußerste Zurückhaltung und schärfste Achtsamkeit geboten, da mit heimtückischer Kampfweise zu rechnen ist. Besonders die asiatischen Soldaten der Roten Armee sind undurchsichtig, unberechenbar, hinterhältig und gefühllos.“ Diese rassistischen Anweisungen kamen nicht aus dem Propagandaministerium, sondern stammten aus der Feder der Wehrmachtsführung.

Eine wichtige Rolle spielte der von General Wilhelm Keitel unterzeichnete „Kommissar-Befehl“ vom 6. Juni 1941, also ebenfalls vor Beginn der Aggression. In den Strukturen der Roten Armee gab es eine Gruppe von Polit-Offizieren, so genannten „politischen Kommissare“, die laut Anweisung der Wehrmachtsführung nicht als Kriegsgefangene zu behandeln seien. Sie seien bereits an der Front zu töten. Wurden sie erst später entdeckt, verbrachte man sie zur Liquidierung in die Konzentrationslager. Allein im KZ Buchenwald ermordete die SS in der Exekutionsanlage im „Pferdestall“ über 8000 sowjetische Kriegsgefangene, die als Häftlinge in das Lager verschleppt worden waren, auf der Grundlage des „Kommissar-Befehls“.

Erinnert werden muss auch daran, dass dieser Überfall ursprünglich bereits für das Frühjahr 1941 geplant war. Der Krieg auf dem Balkan, der mit dem Eingreifen der Wehrmachtseinheiten im April 1941 gegen das Königreich Jugoslawien und anschließend gegen Griechenland einen weiteren Kriegsschauplatz an der südlichen Flanke militärisch eröffnete, führte dazu, dass der Überfall tatsächlich erst am 22. Juni 1941 erfolgte.

Allein diese Chronologie der Kriegsvorbereitung verweist alle Erzählungen von geschichtsrevisionistischen Kreisen, dass Hitler nur einem unmittelbar bevorstehenden Angriff der sowjetischen Truppen zuvorgekommen sei (die so genannte „Präventivschlag-These“, die übrigens schon von der faschistischen Propaganda selber verbreitet wurde), ins Reich der Legenden. Nein, dieser Krieg war von Seiten des deutschen Faschismus ideologisch und praktisch lange geplant und vorbereitet worden.

Doch 80 Jahre nach dem Überfall ist eine andere Frage tatsächlich noch unbeantwortet, Wie gelang es dem deutschen Faschismus noch bis wenige Tage vor dem Überfall, die Sowjetunion in Sicherheit zu wiegen, so dass Stalin Informationen von Aufklärern, wie Richard Sorge aus Tokio u.a., keinen Glauben schenkte und die sowjetische Führung am 22. Juni tatsächlich überrascht wurde?

Bild: © Jochen Vogler / r-mediabase

Ein dritter Aspekt, der in der öffentlichen Debatte nur unzureichend behandelt wird, sind die faschistischen Kriegsziele, die Zerschlagung der Sowjetunion, die wirtschaftliche Ausplünderung und die Ermordung von Millionen Menschen als Teil des „Vernichtungskrieges“.

Bei der Aufspaltung der Sowjetunion bediente man sich der nationalistischen Kräfte in diesem Vielvölkerstaat. Ansatzpunkte fanden die deutschen Faschisten bei den baltischen Nationalisten, bei den ukrainischen Bandera-Nationalisten und bei den verschiedenen Völkern im Kaukasus, die nicht nur hofften, einen eigenen Teil vom „Kuchen“ zu erhalten, sondern sich auch als Freiwillige der SS-Einheiten in den antibolschewistischen Kampf einbinden ließen. Dass der deutsche Faschismus – nach dem Endsieg – keinesfalls Unabhängigkeitsrechte einzuräumen bereit war, ist bekannt.

Bei der Ausplünderung ging es – wie in der Kriegsplanung und bereits in Hitlers „Mein Kampf“ ganz offen ausgesprochen – um die Rohstoffreserven der UdSSR, um die Weizenfelder und Agrarprodukte der ukrainischen Schwarzerde-Region, um die Öl- und Gasvorkommen im Kaukasus, um Eisenerz und die industriellen Kapazitäten in den westlichen Republiken der Sowjetunion. All das wurde in der Planung zum „Fall Barbarossa“ bereits als Ressource eingeplant, um den Krieg gegen die UdSSR überhaupt führen zu können. Das nach Osten vorrückende Millionenheer sollte sich aus den Vorräten der örtlichen Bevölkerung versorgen und damit den dort lebenden Menschen die Lebensgrundlage nehmen. Schon dies zeigt, in welchem Umfang dieser militärische Einsatz von Anfang an ein Vernichtungskrieg gegen die „slawischen Untermenschen“ sein sollte.

In eine gemeinsame Form gegossen wurde diese Ausplünderung im „Generalplan Ost“, der als „genozidales Langzeitprojekt“ (Dietrich Eichholz) der faschistischen Kriegsplanung anzusehen ist. Es ging dabei um die geplante Ostkolonisation mit germanischen Siedlungsgebieten („Lebensraum im Osten“), um eine Massenvertreibung und Vernichtung von bis zu 50 Mio. Menschen aus den betreffenden Gebieten und den Einsatz der Verbliebenen als Zwangs- und Sklavenarbeiter.

Der dritte Aspekt war die gezielte Vernichtung jüdischer Menschen, von Sinti und Roma sowie „slawischer Untermenschen“ in den okkupierten Gebieten. Noch hatte die Wannsee-Konferenz, auf der die Massenvernichtung besprochen wurde, nicht stattgefunden, aber das politische Ziel der Vernichtung aller jüdischen Menschen war bereits in den Köpfen aller Verantwortlichen präsent. Schon die ersten Wochen des Überfalls auf die Sowjetunion waren begleitet von zahlreichen Massenmorden, die teilweise gemeinsam mit örtlichen Kollaborateuren durchgeführt wurden. Im Wald von Rumbula ermordeten lettische Hilfspolizei und deutsche Einsatzgruppen-Einheiten 1941 über 15.000 jüdische Menschen. Im ukrainischen Lviv (Lemberg) verübten Wehrmacht und Bandera-Kollaborateure schon Ende Juni 1941 erste Massenmorde. Das wohl bekannteste Massaker ereignete sich Ende September 1941, als die Wehrmacht zusammen mit den Einsatzgruppen, unterstützt durch ukrainische Hilfspolizisten etwa 33.000 Kiewer Juden aus der Stadt zusammentrieben und in der Schlucht von Babyn Jar erschossen. Und das waren nur die bekanntesten Beispiele.

Insgesamt summierten sich die Morde an der Zivilbevölkerung im Zuge des „Russland-Feldzuges“ auf etwa 20 Mio. Opfer, zu denen nicht zuletzt die über eine Mio. Opfer der 900tägigen Blockade von Leningrad gehörten. Hinzu kommen noch etwa 7 Mio. Angehörige der sowjetischen Streitkräfte.

Vollkommen zurecht wird im politischen Deutschland darauf verweist, dass die Ermordung von 6 Millionen europäischen Juden in den deutschen Vernichtungslagern aus rasse-ideologischen Gründen die Grundlage für eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung und die „Staatsräson“ gegenüber dem Staat Israel bilden müsse.

Was gegenüber dem Staat Israel gilt, scheint aber gegenüber den ebenfalls aus rasse-ideologischen Gründen ermordeten über 20 Mio. sowjetischen Zivilisten keine Gültigkeit zu haben. Wir erinnern uns, dass es fast 50 Jahre dauerte, bis diese Gesellschaft bereit war sich mit den Wehrmachtsverbrechen unter der Überschrift „Vernichtungskrieg“ ernsthaft zu beschäftigen. Ihr alle erinnert euch, wie damals Geschichtsrevisionisten und Apologeten der Wehrmacht dagegen hetzten.

Für mich bedeutet jedenfalls die Erinnerung an den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, dass unsere Gesellschaft und Politik Verantwortung und eine „Staatsräson“ gegenüber den Nachfolgestaaten der Sowjetunion besitzt. Und das bedeutet, dass nicht kalter Krieg und politische Abgrenzung sondern Dialog, nicht Konfrontation und Verschärfung der militärischen Spannung, sondern gemeinsame Sicherheitspolitik das Verhältnis der Staaten zueinander prägen müssen.

Weitere Bilder und Videos von der Demonstration unter:

https://r-mediabase.eu/koeln-gemeinsame-sicherheit-statt-konfrontation-abruestung-und-entspannung-jetzt-2/