80. Jahrestages der Reichspogromnacht in Bergisch-Gladbach

16. November 2018

,

Rede von Peter Trinogga, Vorsitzender der VVN-BdA Köln bei der Mahnwache anlässlich des 80. Jahrestages der Reichspogromnacht in Bergisch-Gladbach:

Bild von Klaus Müller

 

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Willnecker,


liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Anwesende,

Wenn der Begriff des Schicksalstages überhaupt einen Bezug zur Realität hat, dann können wir mit Fug und Recht den 9. November einen Schicksalstag der neueren deutschen Geschichte nennen. In diesem Jahr begehen wir an diesem 9. November gleich zwei runde Gedenktage: Vor 100 Jahren wurde durch eine Revolution, ausgelöst durch einen Aufstand von Matrosen, die nicht bereit waren, in einer letzten großen Seeschlacht zum Ruhm des Reiches verheizt zu werden, das marode Kaiserreich gestürzt und eine parlamentarische Demokratie eingeführt. In kürzester Zeit schlossen sich den Roten Matrosen in ganz Deutschland hunderttausende Menschen an und schickten nicht nur den Kaiser nach Holland sondern alle Herrscherhäuser in den vielen deutschen Teilstaaten gleich mit auf den Müllhaufen der Geschichte. Der erste Weltkrieg, das große Menschenschlachten, konnte nur so endlich beendet werden.

Auf den Tag 20 Jahre später wurden in aller Öffentlichkeit, vor den Augen der ganzen Welt jüdische Menschen verhöhnt, gequält und ermordet, ihre Gotteshäuser geschändet, demoliert, gebrandschatzt: Die Reichspogromnacht war der Beginn des Massenmordes der Nazis an den deutschen und europäischen Jüdinnen und Juden, dem mehr als 6 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Nebenbei: Während meiner Schulzeit in den sechziger und siebziger Jahren war noch von der „Reichskristallnacht“ die Rede wenn es um den 9. November 1938 ging. Ohne weiteres Nachdenken wurde die Lüge, die sich die braunen Machthaber ausgedacht hatten, um ihre jüdischen Opfer auch noch zu verhöhnen, in dieser Nacht sei lediglich ein bisschen jüdisches Kristall, im Gegensatz zu deutschem Glas, zu Bruch gegangen, wiederholt.

Schauen wir uns den Verlauf der Revolution im Frühjahr 1919 genauer an, werden wir sehen, das manches, was an Hass gegen jüdische Menschen seit dem 30. Januar 1933 Regierungspolitik wurde, sich bereits 1919 ankündigte: Im Kampf gegen diejenigen, die die Revolution fortführen wollten und deren Ziel eine Räterepublik war, wurde der Begriff des „jüdischen Bolschewismus“ erfunden, der 1941 zur Rechtfertigung des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion herhalten musste. Kurt Eisner, der linke Sozialdemokrat, der den Freistaat Bayern ausrief, wurde von einem bayerischen Adligen aus dem Umkreis der faschistischen und militant antisemitischen Thule-Gesellschaft auch deshalb hinterrücks ermordet, weil er Jude war. Dem ebenfalls bayerischen Revolutionär Gustav Landauer, wie auch der polnischen Jüdin und deutschen Kommunistin Rosa Luxemburg erging es genauso – sie fielen einem Gemisch aus Hass gegen alles Linke und alles Jüdische zum Opfer. Noch eine Anmerkung nebenbei: Der Mörder Eisners, Anton Graf von Arco auf Valley hatte eine jüdische Mutter und wollte seinen Gesinnungsgenossen aus der Thule-Gesellschaft durch den Mord beweisen, dass er dennoch ein wahrer, zuverlässiger Antisemit sei.

Diejenigen, die die Revolution keinesfalls zu weit gehen lassen wollten, die auf Biegen und Brechen eine Räterepublik verhindern wollten, hatten keinerlei Scheu, sich dazu Antisemiten zu bedienen. Die Soldaten der sogenannten Sturmbrigade Ehrhardt, eines Freikorps, das aus der Reichswehr hervorgegangen war und im Januar 1919 in Berlin eine Blutspur hinter sich herzog, hatten ein Hakenkreuz am Stahlhelm. Ihr Lied lautete: „Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band, Sturmbrigade Ehrhardt werden wir genannt“. Auch die Mörder des damaligen Außenministers Walther Rathenau, faschistische ehemalige Reichswehroffiziere, die in der geheimen Organisation Consul organisiert waren, grölten: „Schlagt ihn tot den Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ Die antisemitische Saat, die ab 1933 aufging, wurde also bereits 15 Jahr vorher gelegt und, um im Bild zu bleiben, fleißig gegossen. Das hier gegenüber, in den ehemaligen Stella-Werken zuerst Kommunisten, Linke, Antifaschisten gefangengehalten und gequält wurden und dann 8 Jahre später jüdische Menschen ist also kein reiner Zufall, im Gegenteil, es hatte meines Erachtens System.

Bild von Klaus Müller

In der „Aktuellen Stunde“ des WDR am 5. November wurde von einer Untersuchung, oder genauer gesagt der ersten wissenschaftlichen Untersuchung über die Zahl der in der Nacht des Pogroms ermordeten jüdischen Menschen berichtet. Laut zeitgenössischen Nazimedien fielen etwa 90 Juden dem, hören Sie bitte die Anführungszeichen mit, gut organisierten „Volkszorn“ zum Opfer – und zwar auf den gesamten Gebiet des damaligen deutschen Reiches. Die Untersuchung, die das Düsseldorfer NS-Dokumentationszentrum erstellt hat, weist nach, dass alleine auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen 127 jüdische Menschen dem Naziterror zum Opfer fielen. Sie wurden erschossen, erschlagen, vom Mob zu Tode gehetzt. Warum wird ein solches Verbrechen eigentlich erst nach 80 Jahren untersucht?

Und noch eine aktuelle Meldung, diesmal aus dem Kölner Stadtanzeiger, ebenfalls vom vergangenen Montag. Ich zitiere: „Deutsche sehen keine Veränderung: Hat der Antisemitismus in Deutschland zugenommen? 51 % der Menschen in Deutschland beantworten eine entsprechende Frage mit Nein, 40 % mit Ja, berichtete der Hessische Rundfunk, der die Umfrage bei Infratest Dimap in Auftrag gegeben hatte. Im Gegensatz dazu haben 78 % der Juden in Deutschland das Gefühl, der Antisemitismus in Deutschland sei stärker geworden.“ Soweit die dpa-Meldung aus der Kölner Lokalpresse. Abgesehen davon, dass es manipulativ erscheint, wenn bei einem Zahlenverhältnis von 51 zu 40 in der Überschrift bereits ausgesagt wird, die Deutschen sähen keine Veränderung, bestätigen die wenigen, dürren Sätze, das Antisemitismus auch 73 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus ein deutsches Thema ist.

Aus meiner Sicht ist Antisemitismus nicht nur Thema, er sitzt seit einiger Zeit auch wieder im Bundestag und den Landtagen. Zwar gibt es offenbar mittlerweile auch eine Gruppe „Juden in der AfD“ aber vor allem gibt es von Seiten dieser Partei immer wieder Äußerungen, die beweisen, dass es sich um keine bürgerliche Protestpartei sondern um eine rechtsextreme Gruppe mit starken Affinitäten zu faschistischem Gedankengut handelt. Wolfgang Gedeon, Verfasser eines antisemitischen Machwerks sitzt für die AfD immer noch im Landtag in Stuttgart. Alexander Gauland, Co-Vorsitzender der AfD-Bundestagsfraktion bezeichnete die 12 Terrorjahre des Faschismus in Deutschland als lediglich einen Vogelschiss in 1000 Jahren deutscher Geschichte. Und Björn Höcke, gerade wiedergewählter AfD-Chef in Thüringen sagte über das Holocaust-Mahnmal in Berlin: „Wir Deutschen – und ich rede jetzt nicht von euch Patrioten, die sich hier heute versammelt haben – wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“. Und das soll nichts mit Antisemitismus zu tun haben?

Immer wieder hört oder sieht man in den Medien die Behauptung, jüdische Menschen seien von den Nazis wegen ihrer Religion verfolgt und ermordet worden. Mir ist durchaus bewusst, dass diese Behauptung aus Unwissenheit und nicht aus Böswilligkeit aufgestellt wird – das macht sie aber in keiner Weise richtiger. Die Nazis hassten die Menschen, die sie für Juden hielten, und bei denen es völlig egal war, ob sie Juden, Christen, Atheisten waren, aus rassistischem, antisemitischen Wahn. Wir sprechen beim Thema Antisemitismus nicht über Religion sondern über Rassismus!

Was aber heißt Rassismus hier und heute?

Vielleicht sieht er heute so aus:

Anlässlich einer Demonstration „besorgter Bürger“ in Chemnitz, es hätte aber auch anderswo sein können, machen rechte Demonstranten Jagd auf Menschen, die Migranten sind oder wie Migranten aussehen. Danach wird von den zuständigen Behörden erstmals weder wirklich verfolgt noch aufgeklärt – stattdessen diskutieren namhafte konservative Politiker über die semantische Frage, ob eine Hetzjagd auch Hetzjagd genannt werden dürfe. Und der gerade abgelöste Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes, der bei der Aufklärung der Verstrickungen seines Amtes in die NSU-Morde mauerte, wo er nur konnte, phantasiert noch heute, die angebliche Hetzjagd sei in Wirklichkeit eine wahlweise linke oder russische Medienmanipulation.

Oder so: Ein junger Mann, kurdischer Flüchtling aus Syrien, wird aufgrund einer Verwechslung, bzw. eines Identitätsdiebstahls verdächtigt, ein Kleinkrimineller zu sein. Nach mehreren Wochen Untersuchungshaft, während der er immer wieder seine Unschuld beteuert, verbrennt er in seiner Zelle. Ein Sachverständiger kam unlängst zu dem Schluss, der Jugendliche habe seine Zelle in Suizidabsicht in Brand gesetzt. Weshalb er dann den Notruf betätigte, der vom zuständigen Beamten unter Hinweis auf eine andere dienstliche Verpflichtung ignoriert wurde, bleibt rätselhaft. Ich stelle mir die Frage: Wäre auch ein weißer Deutscher oder ein Westeuropäer so lange unschuldig eingesperrt worden und wäre dessen Notruf auch ignoriert worden?

Und auch wenn ein namhafter konservativer Regierungspolitiker Migration von Flüchtlingen die Mutter aller aktuellen politischen Probleme nennt ist das Rassismus, genau wie die unzähligen unflätigen und menschenverachtenden Kommentare und Bemerkungen, die tagtäglich in irgendwelchen elektronischen Netzwerken zu lesen und an vielen Orten zu hören sind. So sieht Rassismus aus, der sich heute nicht mehr in erster Linie als Hass gegen Juden äußert, sondern sich gegen alle die richtet, die nicht ins völkische Denken passen, angeblich nicht zu „unserem Volk“, was immer das auch sein mag, gehören. Mit dem Volk, unserem wie allen anderen Völkern, ist das allerdings so eine Sache: Kein Volk bleibt für sich, es kommen Menschen anderer Nationalität, Sprache, Hautfarbe hinzu, werden aufgenommen und irgendwann fällt gar nicht mehr auf, dass sie nicht schon immer da waren.

Was aber tun gegen Rassismus, gegen Antisemtismus, gegen Nationalismus? Um die Frage noch konkreter zu stellen: Was aber tun, wenn uns rassistische Vorurteile und Denkmuster ganz persönlich begegnen, in unserem direkten Umfeld, in der Schule, am Arbeitsplatz, vielleicht sogar in der Familie? Aus eigener Erfahrung im Betrieb weiß ich, wie schwer es ist, mit Argumenten dagegenzuhalten. Aber egal, wie schwer das ist, wir müssen dagegenhalten – wenn wir es nicht tun, tut es auch kein anderer. Bei den einen, den meisten Menschen gilt es, mit viel Geduld und Ruhe (und glauben sie mir, ich weiß, wie schwer es manchmal sein kann, ruhig zu bleiben, wenn man am liebsten vor Wut platzen möchte) immer wieder gegen Vorurteile und Denkfaulheit anzugehen. Häufig findet man dann sogar Mitstreiterinnen oder Mitstreiter, mit denen man gar nicht gerechnet hat, die sich aber durch unseren Widerspruch ermutigt fühlen, ebenfalls Position zu beziehen.

Im politischen Raum gilt es dagegen, immer wieder öffentlich Zeichen zu setzen, immer wieder laut zu sagen, dass Rassismus nicht zum normalen politischen Leben gehört, dass wir uns an rassistische und faschistische Parteien und Gruppierungen nicht gewöhnen wollen und können, dass Faschismus und Antisemitismus keine Meinungen sind, sondern Verbrechen.

Ich bin seit vielen Jahren Betriebsrat in einem großen Kölner juristischen Fachverlag mit ungefähr 300 Beschäftigten. Die Kolleginnen und Kollegen kommen aus unterschiedlichen Ländern, haben unterschiedliche Hautfarben und Religionen, sprechen mehr oder weniger gut deutsch. Und doch arbeiten wir, von den überall vorkommenden alltäglichen Reibereien einmal abgesehen, recht gut zusammen. Das liegt auch daran, dass alle wissen, dass wir für unsere Interessen als Beschäftigte zusammen streiten müssen. Eine höhere Bezahlung oder bessere Arbeitsbedingungen werden wir nur gemeinsam erreichen – jede Spaltung würde schwächen. Das weiß auch jeder und die meisten verhalten sich entsprechend.

Außerhalb der Betriebe, in Politik und Gesellschaft ist das genauso: Genügend Kitas und Schulen, die personell und materiell so ausgestattet sind, das Lernen Spaß macht, Krankenhäuser und Plegeeinrichtungen, in denen es menschlich zugeht und in denen die Plegerinnen und Pfleger Zeit haben, sich um die Patienten zu kümmern, bezahlbare Wohnungen, Sicherheit für Alle, Kultur – all das benötigen wir, unabhängig davon, wo wir herkommen, zu welchem Gott wir beten, welche Sprache wir wie gut sprechen, wie dunkel oder blass unsere Haut ist. Und wie im Betrieb, werden wir solch gute Lern- und Lebensbedingungen nur gemeinsam erreichen. Rassismus ist nicht nur menschenfeindlich – er ist auch dumm und gegen unsere ureigensten Interessen gerichtet.

Lassen Sie uns deshalb gemeinsam immer weiter gegen Antisemitismus und alle anderen Formen des Rassismus, gegen Menschenfeindlichkeit und Dummheit eintreten. Das erfordert gewiss noch einen sehr langen Atem. Ich denke aber, dazu gibt es keine Alternative.