Gegen das Vergessen
27. April 2011
Es ist ein sonniger Morgen. Der Blick geht an diesem Sonntag jedoch zurück zum 13. April 1945, an dem in der Schlucht am Wenzelnberg 71 Häftlinge von der Gestapo ermordet wurden, wenige Tage vor der Befreiung durch die Alliierten.
Schüler der Klasse 9a des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums Leverkusen tragen ihre Gedanken vor: Wie haben sich wohl die Häftlinge aus dem Zuchthaus Lüttringhausen gefühlt, die zur sogenannten „Sicherheitsüberprüfung“ abgeführt wurden. Ahnten sie, dass es ihr Todesurteil sein würde? Eigentlich hätten 600 Widerständler sein sollen, die die Nazibürokratie zur Vernichtung vorgesehen hatte.
Leverkusens Bürgermeisterin Eva Lux plädierte für eine „wache Zukunft“, um den Wert der Menschenrechte fortlaufend zu garantieren und an folgende Generationen weiter zu geben. „Man muss die Freiheit schätzen lernen, um sie zu verteidigen“, so die SPD-Politikerin.
Für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes sprach Gunhild Böth, Mitglied der Linken und Vizepräsidentin des Landtags Nordrheinwestfalen. Sie setzte ihre Hoffnung in die Jugend:
“Und deshalb bin ich immer wieder froh, wenn ich viele junge Menschen sehe, die sich gegen die Aufmärsche der Neonazis stellen…die ihre Stimme erheben.“, so Böth zum Abschluss ihrer Rede.
Musikalisch wurde die Gedenkfeier durch das Blasorchester der Jugendmusikschule Leverkusen mit Werken von Johann Sebastian Bach begleitet.
Der Wortlaut der Rede von Gunhild Böth im Folgenden.
Gunhild Böth, MdL, Vizepräsidentin des NRW-Landtags, Rede 10.4.2011 Wenzelnberg
Sehr geehrte Anwesende,
„Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung“ – dieser Leitspruch des Mahnmals hier in der Wenzelnbergschlucht ist heute bereits einige Male zitiert worden. Zwei Tage vor Einmarsch der US-Amerikaner in Solingen erschoss die Gestapo 71 Männer und verscharrte sie hier. Warum?
Sie wollten sicherlich Zeugen beseitigen, aber sie wollten wohl auch Widerstand gegen die Naziideologie verhindern – sogar über die eigene Niederlage hinaus und sie wollten den absehbaren politischen Neubeginn schwächen, den sie kommen sahen. Wofür standen diese ermordeten 71 Männer?
In der Mehrheit Kommunisten und Geistliche, so standen sie als aktive Gegner der Nazidiktatur für ein „anderes Deutschland“, ein demokratisches, eines, das nicht nur den Faschismus, sondern auch die Ursachen des Faschismus in Deutschland beseitigen wollte.
Meine Damen und Herren,
„Schuldig sind nur die Schuldigen“, hat der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel immer wieder betont.
Das soll heißen: Für die unfassbaren Verbrechen unserer Vorfahren an Millionen von Menschen tragen wir keine persönliche Schuld. Aber wir tragen sehr wohl Verantwortung dafür, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.
Wir würden uns schuldig machen, wenn wir das Erinnern vernachlässigten.
Wir alle können helfen, das Wissen über die Verbrechen der Nazis von Generation zu Generation weiterzugeben.
Wir dürfen deshalb nicht zulassen, dass die Verbrechen der Nazis irgendwann ein beliebiges und austauschbares Kapitel unserer Geschichte sind. Und wir dürfen nicht zulassen, dass ihre Taten abstrakt und damit für unsere nachfolgenden Generationen weniger fassbar werden.
Wir müssen sie mit den konkreten Schicksalen ihrer Opfer in unseren Städten in Verbindung lassen.
Das Schicksal dieser Gestapo-Opfer hier ist und bleibt für immer ein Teil der Geschichte dieser Region. Und darum ist es auch so wichtig, dass die Namen der Opfer nicht vergessen werden.
Wenn wir hier stehen, dann setzten wir ein klares Zeichen. Gemeinsam machen wir deutlich:
Wir werden die Opfer der NS-Diktatur niemals vergessen. Wir werden ihnen ein würdiges Andenken bewahren.
Und wir werden über Generationen hinweg alles dafür tun, dass Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz niemals wieder einen Platz in unserer Gesellschaft finden.
Meine Damen und Herren,
„Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.“
Diese Worte von Elie Wiesel bringen es auf den Punkt.
Gemeinsam wollen wir Partei ergreifen. Und gemeinsam wollen wir nicht schweigen, sondern unsere Stimmen erheben.
Gegen Antisemitismus. Gegen Fremdenfeindlichkeit. Und gegen das Vergessen.
Und deshalb bin ich immer wieder froh, wenn ich viele junge Menschen sehe, die sich gegen die Aufmärsche der Neonazis stellen, denen es nicht reicht, unbeteiligt zu sein, sondern die ihre Stimme erheben.
Aber auch dabei ist nicht nur die Zivilgesellschaft gefordert, hier ist sicherlich ebenso der Staat gefordert.
Es gibt – und das freut mich persönlich sehr – eine breite Übereinstimmung aller Landtagsparteien in der Frage, dass die Neonazis und ihre Aufmärsche verhindert werden müssen.
Dass solche Organisationen die demokratischen Grundrechte nutzen können, um antidemokratische Parolen zu grölen, um ihre menschenverachtende Propaganda zu betreiben, ist skandalös. Insofern begrüßen alle im Landtag vertretenen Parteien die Aussagen des Innenministers, dies zu ändern.
Liebe Schülerinnen und Schüler,
Ich bin 1952 geboren und gehöre damit zu einer Generation in Deutschland, die den Faschismus nur aus Erzählungen in der Familie kannte, denn in der Schule kam der Faschismus nicht vor.
Meine Mutter war in der Nazi-Zeit eine hohe BdM-Führerin. Ihre Erzählungen aus der Nazi-Zeit waren geprägt von einer fröhlichen Kinder- und Jugendzeit mit Spiel und Spaß, einer Jugendorganisation ohne Erwachsene, es waren Erzählungen ohne jedes Grauen, eigentlich unpolitische Geschichten, wohingegen mein Großvater aus derselben Zeit von Schlägereien mit Nazis berichtete, davon, dass sich die Nazis lange nicht in sein Wuppertaler Wohnquartier getraut hatten, denn er hat als Sozialdemokrat gemeinsam mit Kommunisten aktiv Widerstand gegen die Nazis geleistet, konnte aber nicht verhindern, dass seine Tochter, also meine Mutter, freudig und voller Überzeugung bei den Nazis mitmischte.
In der Schule hingegen habe ich über die Nazizeit wenig gelernt – und auch das sollten junge Menschen wissen: Es gab in den 50er und 60er Jahren keine solche Kultur des Erinnerns, wie Ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, sie heute pflegt. Es gab eine Gesellschaft des Schweigens über den Terror der Nazis, ein gemeinsames „Es ist vorbei“ und die, die dieses Schweigen störten, wurden als Nestbeschmutzer beschimpft, weil sie angeblich dem Ansehen Deutschlands schadeten.
Wenn heute an diesem und an vielen anderen Gedenktagen immer wieder gesagt wird, dass es wichtig sei, ja unerlässlich, die Erinnerung wach zu halten und sie an die nachkommenden Generationen weiterzugeben, damit sich solche Geschehnisse niemals wiederholen, dann möchte ich daran erinnern, dass es lange in der Bundesrepublik Deutschland gedauert hat, bis ein Erinnern so wie heute überhaupt möglich war:
Organisationen wie die VVN-BdA haben keine Ruhe gegeben – und das ist das größte Verdienst, das, wie ich finde, viel zu wenig anerkannte Verdienst: KEINE Ruhe zu geben; die VVN hat immer und immer wieder daran erinnert, dass die Täter sich nach 1945 nicht in Luft aufgelöst hatten; dass in unserer Gesellschaft staatliche Organisationen und wichtige Schlüsselstellen weiterhin mit Nazis besetzt waren und neu besetzt wurden. Damit hat sich die VVN-BdA und Andere nicht beliebt gemacht! Ihre Arbeiten zur Aufdeckung dieser Zusammenhänge wurden in der Presse nicht veröffentlicht, sie wurden nur in einem kleinen Kreis gehört – die gesellschaftliche Ausgrenzung derer, die an die Täter erinnern wollten, funktionierte perfekt in den 50er und 60er Jahren.
Erst in den späten 60er Jahren fragten junge Menschen nach: „Was haben meine Eltern und Großeltern gemacht? Welche Verantwortung haben sie getragen? Was haben unsere alten Lehrer in der Nazizeit gemacht? Was haben die Professoren an unseren Unis eigentlich in der Nazizeit veröffentlicht?“
Und diese Fragen führten erst einmal nicht zu Scham und Schuldbekenntnis bei den Gefragten, sondern zur Diffamierung der Fragenden.
Die Fragenden konnten sich dann stützen auf Dokumente, auf Zeitzeugen, auf Berichte, auf wissenschaftliche Arbeiten, die z.B. die VVN-BdA zusammengetragen hatte.
Und ich selbst, die ich in jener Zeit des gesellschaftlichen Bewusstwerdens genau diese Fragen gestellt habe, deren Fragen in der Schule nicht beantwortet wurden, als Mensch, der in der Schule nur vom Widerstand der Offiziere des 20.Juni gehört hat, aber sonst nichts, als Mensch, der aber selbst denken konnte und sich an die Erzählungen des eigenen Großvaters erinnern konnte, ich z.B. konnte zurückgreifen auf die Arbeiten und Aktivitäten der VVN-BdA, die auch mir geholfen haben, viel tiefer in die deutsche Geschichte einzudringen.
Dafür möchte ich hier und heute und an dieser Stelle ausdrücklich danken!
Und dies gehört eben auch zur deutschen Geschichte, sich die Geschichte des Erinnerns vor Augen zu führen – und vielleicht bringt auch diese Geschichte der Geschichtsschreibung viele Erkenntnisse…
Meine Damen und Herren,
in den letzten Jahren haben sich viele Unternehmen, viele Institutionen und Einrichtungen ihrer Geschichte in der Nazizeit gestellt. Sie haben Historiker beauftragt,
ihre eigene Rolle zu untersuchen, ihre Beteiligung am Funktionieren der Nazi-Verbrechen aufzudecken. Der nordrheinwestfälische Landtag wird nun das Seinige tun. In Übereinstimmung mit allen Landtagsparteien hat das Präsidium beschlossen, die Vergangenheit der Landtagsabgeordneten seit Bestehen des Landtags zu untersuchen. Wir werden wohl aufdecken, dass ehemalige Nazis – nicht in den ersten Legislaturperioden, sondern nach und nach – wieder auf die politische Bühne gestiegen sind, aber wir hoffen auch auf andere, bessere Vergangenheiten der Landtagsabgeordneten.
Und dies tun wir, weil die junge Generation Anspruch auf Wahrhaftigkeit hat, auch wenn diese Wahrheiten nicht immer bequem sein werden.
Liebe Schülerinnen und Schüler,
Euch möchte ich bitten: Interessiert Euch auch weiterhin für unsere Geschichte, aber auch für aktuelle gesellschaftliche Vorgänge!
Gebt Eure Kenntnisse an Jüngere und auch Ältere weiter! Sprecht Missstände in unserer Gesellschaft offen an! Und arbeitet aktiv daran mit, unsere Demokratie für die Zukunft zu sichern! Es wird Eure Zukunft und Eure Gesellschaft sein!
Gerade vor dem Hintergrund zunehmender Straftaten von Neonazis und in einer Zeit der wirtschaftlichen Unsicherheit dürfen wir nicht müde werden zu betonen:
Unsere Demokratie braucht junge Menschen wie Euch, die mit eigenen Ideen das Miteinander der Generationen, Kulturen und Religionen konstruktiv gestalten wollen.
An Sie, meine Damen und Herren, richte ich folgende Bitte:
Die politische Bildung der jungen Generation muss uns gemeinsam am Herzen liegen. Denn nur wer um den Wert von Demokratie und Freiheit weiß, wird sich auch selbst für deren Erhalt einsetzen.
Nur wer weiß, wie verletzlich das hohe Gut der Menschenwürde ist, der wird politischem Extremismus und Antisemitismus auch in Zukunft keine Chance geben.
Richard von Weizsäcker hat einmal treffend formuliert:
„Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“
Wenn ich das große Engagement in den Schulen betrachte, wie wir es heute beispielhaft von den Jugendlichen des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums gesehen haben, dann sehen wir, dass die jungen Menschen es wollen. Also setzen wir alles daran, dass ihnen auch die Mittel gegeben werden, es zu tun!