Rede Eva Aras zum 8. Mai 2024
26. Mai 2024
Die Blockade Leningrads
Guten Tag, liebe Friedensfreundinnen und -freunde
Ich freue mich, euch heute an diesem wichtigen Tag hier begrüßen zu dürfen!
Auch wenn ich im Namen des Vereins zur Förderung der Städtepartnerschaft mit Wolgograd spreche, halte ich es heute für besonders wichtig, des Endes der Leningrader Blockade am 27. Januar 1944 – also vor 80 Jahren – zu gedenken.
Denn leider ist es ein Ereignis, was in Deutschland kaum bekannt, geschweige denn aufgearbeitet ist.
Dabei handelt es sich um eines der eklatantesten Kriegsverbrechen des 2. Weltkriegs, auf das ich jetzt näher eingehen möchte:
Leningrad wurde vom 8.9.1941 bis zum 27.1.1944 – also 872 Tage, ca. 28 Monate lang- eingekesselt.
Es gab 1,1 Millionen zivile Opfer, 90% davon sind verhungert.
Nachdem relativ schnell klar wurde, dass die deutsche Wehrmacht Leningrad nicht einnehmen konnte, entschied man sich für eine systematische Aushungerung der Stadt. Hitlers Ziel war es, den sogenannten „Hort des jüdischen Bolschewismus“ zu vernichten.
In der folgenden Beschreibung stütze ich mich hauptsächlich auf die Rede von Daniil Granin, die er am 27. Januar 2014 im Deutschen Bundestag gehalten hat. Er war ein russischer Schriftsteller, der als junger Soldat die Blockade erlebt hat. Hier seine Worte:
„Es wurden gezielte Luftangriffe auf das zentrale Lebensmittellager geflogen und alles vernichtet, so dass es kaum noch Vorräte gab, weder Lebensmittel noch Brennstoffe…
Es kam schnell zur Rationierung von Lebensmitteln. Bereits im November wurden die Rationen gekürzt – sie betrugen nur noch 250 Gramm für Arbeiter und 125 Gramm für Angestellte und Kinder. Das ist eine hauchdünne Scheibe Brot – mit Zellulose und anderen Zusätzen…
Die Stadt konnte nicht mehr versorgt werden. Nach und nach brach alles zusammen: Wasser, Kanalisation, Verkehr, auch die Straßenbahn, Licht und Heizung.“
Soweit Daniil Granin.
Dazu wurde der erste Winter extrem kalt – mit oft -40 Grad. Das Massensterben begann. Im Januar und Februar 1942 starben jeweils 96.000 Personen.
Man behalf sich auch mit anderen möglichen Essbarem – Holzleim, kochte Lederwaren aus. Tiere wurden gegessen – bald gab es keine Katzen, Hunde, Ratten und Krähen mehr. Auch gab es Fälle von Kannibalismus.
In diesem Winter errichtete man eine Eisstraße über den zugefrorenen Ladogasee und konnte so viele Menschen evakuieren und Lebensmittel in die Stadt transportieren.
Meine Mutter lebte damals in Leningrad, sie war 23 Jahre alt. Sie hob Schützengräben aus, studierte. Sie berichtete, dass ihre 2 Brüder wegen Unterernährung bettlägerig waren und sie und ihre Mutter auf die Suche gingen nach Essen und Heizmaterial. Ihr Stiefvater wurde eingezogen. Sie erzählte, dass ihr Gedächtnis stark unter der Unterernährung gelitten habe. Zum Ende des ersten Winters gehörte ihre Familie zu den insgesamt 380.000 Menschen, die über den Ladogasee auf „der Straße des Lebens“ evakuiert worden sind.
Das Leben ging weiter: viele Betriebe arbeiteten, Hochschulen, Schulen, Theater, Bibliotheken blieben geöffnet, wenn auch im verringertem Maß. Die Schriftstellerin Olga Berggolc wurde die Stimme der Blockade Leningrads, indem sie über Radio die Bevölkerung über wichtige Nachrichten auf dem
Laufenden hielt. 1500 Lautsprecher waren über die Stadt verteilt, und man wurde jeweils vor den Luftangriffen gewarnt.
Musik…(Anfang des 3. Satzes der Leningrader Symphonie von D. Schostakovich)
Gerade habt ihr den Anfang aus dem 3. Satz der Leningrader Symphonie von Dmitrij Schostakovich gehört, ein besonderer Ausdruck für den Überlebenswillen der leidenden Zivilbevölkerung.
Schostakovich hat während der Belagerung in Leningrad diese Symphonie begonnen und wurde gegen seinen Willen nach Kujbyschew evakuiert, wo er die Symphonie beendete.
Im August 1942 führten dann völlig entkräftete Musiker die Symphonie auf, die über Lautsprecher in die ganze Stadt übertragen wurde, selbst bis zur Wehrmacht wurde sie gehört.
Es grenzt an ein Wunder, wie es dem Dirigenten Karl Eliasberg gelang, mit seinem zweitklassigen Radio-Symphonieorchester diese Aufführung zustande zu bringen. Ein Militärflugzeug brachte die Partitur nach Leningrad. Zu Beginn gab es nur 15 Musiker, doch waren 80 Musiker nötig. Man suchte die Krankenhäuser ab, über Radio wurden Soldaten aufgefordert, dafür Fronturlaub zu nehmen. Bei den Proben fielen immer wieder hungernde Musiker um. Es herrschte bei den Proben strenge Disziplin. Bei Zuspätkommen wurden die Rationen gekürzt.
Die Aufführung der Symphonie wurde in die ganze Sowjetunion, ins restliche Europa und in die USA übertragen – und als großer Sieg gefeiert.
Daniil Granin (1919-2017) hat zusammen mit Ales Adamowitsch ein Buch über die Blockade geschrieben und dazu viele „Blokadniki“ (Blockadeüberlebende) befragt. Und es stellte sich heraus, dass es häufig so war, dass diejenigen überlebten, die anderen beim Überleben halfen. Seiner Meinung nach „hat ihnen ihre Seele geholfen, sich nicht zu entmenschlichen“.
Ein anderes Zitat von ihm: „Das Mitgefühl der Menschen verschwand nicht, sondern wurde wiedergeboren“.
In der Sowjetunion wurde dieses Standhalten besonders gewürdigt, das ganze Land unterstützte die Leningrader Bevölkerung, so gut es ging. Die Überlebenden erhielten später einen Extra-Ausweis mit verschiedenen Vergünstigungen. Sie gelten in Russland als besonders ehrenhaft.
Leningrad ist die 1. Stadt der Sowjetunion, die den Titel „Heldenstadt“ erhielt.
Am 27. Januar 2014 wurde – wie bereits erwähnt – der 95-jährige Schriftsteller Daniil Granin anlässlich des 70. Jahrestages des Endes der Leningrader Blockade in den Deutschen Bundestag eingeladen und hielt eine beeindruckende Rede. Es gab standing ovations von allen Seiten.
Und heute – 10 Jahre später? Schweigen. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist für manche eine gute Gelegenheit, um die Verantwortung gegenüber Russland zu verdrängen.
Zum Schluss möchte ich noch etwas zu den Entschädigungen für die Blockadeopfer sagen:
Zum 75. Jahrestag der Blockade am 27.1.2019 kündigte die Bundesregierung durch das Auswärtige Amt an, die noch lebenden Opfer und Projekte zur deutsch-russischen Verständigung mit rund 12 Millionen € zu unterstützen.
Die jüdischen Blockadeopfer wurden schließlich entschädigt, aber nicht die russischen oder andere Nationalitäten der früheren Sowjetunion.
Die noch ca. 60.000 Überlebenden ohne jüdischer Herkunft fordern deshalb von der Bundesregierung ebenfalls Entschädigungen, sie werfen der Bundesregierung vor, mit zweierlei Maß zu messen. Doch die bisherige Antwort der Bundesregierung ist, dass die Blockade Leningrads eine „allgemeine Kriegshandlung“ war und sie deshalb kein individuelles Anrecht auf Entschädigung haben. Die Bundesregierung behauptet, dass mit den Reparationen nach Ende des Krieges die Hilfszahlungen an nichtjüdische Opfer abgeschlossen seien.
Wir stehen hinter der Forderung der 60.000 Überlebenden und fordern nach fast
80 Jahren Kriegsende diese Entschädigung.
Ihr hört jetzt ein Gedicht der großen russischen Lyrikerin Anna Achmatowa
(„Ветер войны», „Kriegswind“, 28.9.1941). Sie erlebte die Blockade und
wurde später nach Taschkent evakuiert.