8. Mai 2018
15. Mai 2018
73 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus ist die Hoffnung der überlebenden Antifaschisten aber auch vieler anderer Menschen „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ vielleicht aktueller denn je. Eine völkische, in Teilen faschistische Partei sitzt nicht nur in den meisten Landtagen, sondern auch im Bundestag, Neonazis dürfen in Sachsen durch die Polizei weitgehend ungestört Hitlers Geburtstag begehen, während Antifaschist(inn)en kriminalisiert werden. Und außenpolitisch stehen die Zeichen nicht auf Verständigung, sondern auf Aufrüstung, Unterstützung von Aggressionen NATO-Verbündeter und einer zunehmenden, geradezu irrationale Züge annehmenden Feindschaft zu Russland.
Der 8. Mai ist für Antifaschist(inn)en ein Tag der Trauer um die Millionen Opfer der Nazidiktatur und des von ihr begonnenen Krieges, ein Tag der Freude über die Befreiung durch die Soldat(inn)en der Alliierten und ein Tag der Mahnung, gemeinsam alles Menschenmögliche gegen Krieg, Rassismus und Faschismus zu unternehmen.
Die beiden Redner*innen der dies-jährigen Veranstaltung zum 8.Mai am Mahnmal mal Hansaring spannten beide einen Bogen zwischen den gegenwärtigen Entwicklungen und der Vergangenheit. Peter Trinogga (VVN-BdA Köln) bezog sich in seiner Rede auf die historische Bedeutung des Mahnmals und deren nachträglichen Veränderung, während Stefanie Intveen (DfG-VK) vor allem Russland / die Sowjetunion in den Blick nahm. Beide Reden sollen im Folgenden zitiert werden:
Rede Peter Trinogga (VVN-BdA):
„Liebe Kameradinnen und Kameraden,
liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
der 8. Mai, der Tag der Befreiung Europas und Deutschlands vom Hitlerfaschismus war und ist für die meisten Deutschen ein schwieriger Tag. Offizieller Gedenktag wurde er nie und erst 1985 nannte ihn der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker einen Tag der Befreiung, gegen alle Widerstände des rechten CDU-Flügels.
Für die meisten Menschen handelte es sich tatsächlich um eine Befreiung: Für die Verfolgten des Naziregimes, die in Zuchthäusern, Konzentrationslagern, Zwangsarbeiterlagern oder in tiefster Ilegalität lebten, litten und kämpften sowieso, für die große Mehrheit der Deutschen, selbst für die Passiven und die Mitläufer der Nazis war es auf jeden Fall die Befreiung vom Krieg, der von Deutschland aus Europa verheert hatte und an seinen Ausgangsort zurückgekehrt war. Und doch empfanden viele Deutsche die Befreiung als Niederlage. Für viele war es ja auch wirklich eine Niederlage: Für die Naziführer und ihre Folterknechte, die allein an diesem Ort hier, im ehemaligen Kölner Zuchthaus Klingelpütz mehr als 1.000 Menschen in den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 ermordeten. Eine Niederlage war es auch für die Teile des deutschen Kapitals, die die Nazis ins Amt gehievt (das war vor allem die Schwer- und Chemieindustrie) und die von Krieg, Unterdrückung und Versklavung Hunderttausender profitiert hatten Das waren die meisten deutschen Unternehmen).
Die Spaltung der öffentlichen Meinung oder genauer gesagt, diese Spaltung der Gesellschaft setzte sich in den 50er Jahren in noch stärkerem Maße fort. Einerseits bekamen die Monopole, die den Faschismus so lange stützten, wie sie durch ihn ihre Profite steigern konnten, nach einer kurzen Unterbrechung wieder eine führende Rolle in der jungen Bundesrepublik, andererseits meinten die USA im Kalten Krieg die Unterstützung durch deutsches Militär zu benötigen – sie wollten die Wiederaufrüstung und eine westdeutsche Armee. Wer aber waren die Militärexperten? Natürlich diejenigen, die wenige Jahre vorher die Brandfackel des Krieges durch Europa getragen hatten. Und so gab es weder bei der Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer, noch bei der NATO oder in Washington irgendwelche Skrupel, alte Nazimilitärs, Nazigeheimdienstler, Nazibürokraten wieder in Amt und Würden zu bringen. Ein Gedenken an den Tag der Befreiung hätte da nur gestört, verunsichert und dem dringend benötigten Wehrwillen, der Bereitschaft zu töten und notfalls getötet zu werden, geschadet.
Stattdessen gab es eine seltsame Mischung aus Gedenken an ausgesuchte Opfergruppen der Nazis, der Erinerung an einige wenige, meist konservative Widerständler und vor allem Selbstmitleid: „Die Deutschen“ hätten ja selbst am meisten unter Krieg unf Naziterror gelitten. Deshalb sollte keinesfalls mehr zwischen Tätern und Opfern unterschieden werden. Wir stehen hier an einem Platz, wo das augenfällig wird – wenn man es weiß. Am 28. Januar, in der Gedenkfeier anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer folgendes lernen:
„..am 25. Mai 1945 werden auf dem Gelände des Klingelpütz sieben Leichen gefunden, die dort von der Gestapo verscharrt worden waren. Es sind sechs Männer und eine Frau. Es wird angenommen, dass es sich um ehemalige Zwangsarbeiter handelt. Man lässt sie von hochrangigen Kölner Nazis ausgraben.
Am 3.Juni 1945 werden sie am Hansaplatz beerdigt. Hierfür hatten sich verschiedene Verfolgtenverbände und die Stadt eingesetzt. 1500 Teilnehmer kommen für diese Einweihungsfeier zusammen. Auf der Grabplatte steht geschrieben:
Hier ruhen sieben Opfer der Gestapo. Dieses Mal erinnere an Deutschlands schandvollste Zeit 1933 – 1945
…
Am Mahnmal Hansaplatz, dem Ort der politischen Identifikation, wird dagegen eine Abschwächung der eindeutigen Aussage über die Täter vorgenommen. Am 22.5.1959 wird neben dem schlichten Gedenkstein eine stehende Skulptur des niederländischen Künstlers Mari Andriessen aufgestellt: „Frau mit totem Kind“. Sie hat keinen inhaltlichen Bezug zu den dort beerdigten Zwangsarbeiterinnen. Die Plastik ist ursprünglich Teil einer großen 6-teiligen Skulpturengruppe, die Andriessen in den Jahren 1947 bis 1951 fertigte. Dieses Ensemble steht im niederländischen Enschede, wo sie an die Befreiung von der deutschen Besatzung erinnert. Die von der Kölner Stadtverwaltung ausgesuchte Teilfigur trägt den Namen „Bomslachtoffer“ (Bombenkriegsopfer). Die vermutlich niederländische Frau trägt ein von Deutschen getötetes Kind im Arm! Die Aufstellung des Zweitgusses dieser bildhauerischen Arbeit neben dem Kölner Gedenkstein, der niedriger und weniger sichtbar ist, verändert die ursprüngliche Aussage des Mahnmals. Die deutschen Zivil- und Kriegstoten des 2. Weltkrieges werden nun in den Vordergrund gerückt.“
Liebe Freunde,
warum aber begehen wir noch heute, 73 Jahre nach Ende des Krieges den Tag der Befreiung? Die Antwort ist einfach: Weil diejenigen, die nicht bereit sind, aus der Geschichte zu lernen, in der Gefahr schweben, sie wiederholen zu müssen – und das gilt es unter allem Umständen zu verhindern. Was aber können wir lernen?
Die Machtübertragung am 30. Januar 1933 erfolgte nicht aus heiterem Himmel. Ihr gingen voraus der Aufstieg der NSDAP zur Massenpartei, Hunderte von Morden an Antifaschist(inn)en und Antifaschisten, beginnend mit den Morden an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Kurt Eisner, Gustav Landauer in den ersten Monaten des Jahres 1919. Auch deren Mörder trugen schon das „Hakenkreuz am Stahlhelm“ wie sie selber sangen. Weiter gingen dem 30 Januar 1933 voraus eine verstärkte Repression gegen die linke Opposition und die offizielle wie die geheime Aufrüstung der Reichswehr. All das waren Trittsteine auf dem Weg in den Faschismus. Begehbar wurde der Weg, weil sich die Antifaschistinnen und Antifaschisten nicht auf einen gemeinsamen Widerstand gegen Rechtsentwicklung und Naziterror einigen konnten.
Wie sieht es heute aus, stehen wir wieder vor einem neuen Faschismus, einer Naziherrschaft 2.0? Natürlich nicht, wir leben in einer Demokratie mit allen bürgerlichen Freiheiten. Doch diese Freiheiten sind wieder in Gefahr! Diesmal nicht durch ein neues Ermächtigungsgesetz, sondern durch ihren langsamen Abbau. Die Freiheit stirbt stückweise:
Die AfD eine vökische, rassistische, frauen- und minderheitenfeindliche Partei mit einem starken faschistischen Flügel erstarkt zusehends, ist in einigen Gebieten bereits zweitstärkste Partei!
Viele Themen der AFD werden von anderen Parteien übernommen, angeblich, um die Rechten nicht zu stark werden zu lassen. Welch ein gefährlicher Unsinn, wer rechte Argumente aufgreift, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Menschen statt der schwarzen Kopie dann lieber das braune Original wählen!
Die Repression gegen die linke Opposition nimmt zu: In Hamburg beim G 20-Gipfel (aber nicht nur dort) werden Demonstrationen auseinandergeprügelt, werden schwerste Verletzungen von Demonstantinnen und Demonstranten nicht nur in Kauf genommen, sondern offenbar auch angestrebt. Mit neuen Gesetzen wird ein „Unterbindungsgewahrsam“ bis zu mehreren Wochen eingeführt – früher hieß das mal Schutzhaft!
Von einer verstärkten geheimdienstlichen Überwachung linker und antifaschistischer Menschen brauchen wir kaum noch zu reden: In Kassel war der hessische Verwaltungsgerichtshof tatsächlich der Meinung, Silvia Gingold, Tochter der Widerstandskämpfer Etty und Peter Gingold, und in den 70er Jahren bekanntes Berufsverbotsopfer, müsse u.a. deshalb vom Verfassungsschutz bespitzelt werden, weil sie einer Organisation angehöre, die sich auf den Schwur von Buchenwald beziehe. Diese Organisation ist die VVN-BdA!
Der Schlussstein ist dann der ideologische Roll-Back, der die Nazidiktatur mit der antifaschistischen DDR gleichsetzt, die Nazis zur Reaktion auf die Oktoberrevolution und die Sowjetunion erklärt, behauptet, der „Klassenterror“ sei dem „Rassenterror“ vorausgegangen, die wirtschaftlichen Eliten der späten Weimarer Republik für unschuldig am Aufstieg der Nazis erklärt und reinwäscht und den Schwur von Buchenwald für linksextremistisch erklärt.
Gegen all diese Erscheinungen müssen wir kämpfen, um einer menschenfeindlichen Ideologie und Politik keinen Raum zu lassen. Umstritten unter uns ist, wie wir diese Auseinandersetzung am besten führen. Die VVN-BdA ist der Meinung, dass die wichtigste Lehre des Faschismus darin besteht, möglichst breite Bündnisse zu schließen, um gegen Rechts zu kämpfen. In diesem Kampf müssen wir auch mit Gruppen zusammenarbeiten, mit denen uns sonst wenig bis nichts verbindet. Das heißt nicht, das wir nicht mehr miteinander inhaltlich streiten. Aber wenn wir uns in der Hauptsache einig sind, und diese Hauptsache heißt „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!, dann dürfen wir im Kampf gegen Rechts niemanden ausgrenzen. Grundlage unseres gemeinsamen Kampfes könnte der Schwur von Buchenwald sein, den ich bereits mehrfach genannt habe. Lasst ihn mich zitieren:
„Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens: Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“
Rede Stefanie Intveen (DfG-VK):
„Liebe Mitglieder der VVN-BdA,
liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
liebe Gäste!
Vielen Dank dafür, dass Ihr mich eingeladen habt, heute am 8. Mai zum Gedenken an die
Opfer des Naziregimes zu sprechen.
Wir stehen hier auf dem Hansaplatz in Köln. Hier an dieser Stelle ruhen, wie die Steintafel schreibt, sieben Opfer der Gestapo. Die Tafel erinnert an die Zeit von 1933 – 1945, „Deutschlands schandvollste Zeit“.
Gleich neben mir steht das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Es wurde 1959 hier aufgestellt.
Es ist die Skulptur einer jungen Frau in einem einfachen Kleid. Sie steht barfuß da, ruhig und gefasst. Ein schlanker kleiner Junge liegt nackt und leblos auf ihren Armen, den zurückgesunken Kopf an den Arm der Mutter gelehnt.
Sie schreit nicht, schwört nicht Rache. Sie sieht verletzlich aus, traurig und anklagend:
seht her, was ihr getan habt!
Wenn wir die Figur in Ruhe anschauen, dann wissen wir, was richtig ist und was falsch.
Wir brauchen dafür kein Studium und keine Anleitung. Wir wissen und spüren:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Du sollst nicht töten.
2015 ging das Bild eines anderen leblosen Jungen durch die Weltpresse. Einen Augenblick lang schienen alle den Atem anzuhalten. Der Wille zum Frieden, die Anteilnahme waren auf einmal fühlbar. Aylan Kurdi, ein zweijähriger Junge aus Syrien, war gemeinsam mit seinem fünfjährigen Bruder und seiner Mutter auf der Flucht über das Mittelmeer ertrunken. Nur der Vater überlebte. Aylan wurde am frühen Morgen am Strand von Bodrum gefunden: ein kleiner Junge mit rotem T-Shirt, blauer Hose und Turnschuhen, der friedlich im Sand kauerte, als sei er beim Spiel eingeschlafen, wie das bei Zweijährigen eben manchmal passiert.
Wie die Figur der trauernden Mutter hier zeigte auch Aylans Vater, Abdullay Kurdi, der Welt seinen toten Sohn. Er sagte in einem Interview: „Die Menschen dürfen nicht wegsehen, was schreckliches passiert auf dem Weg nach Europa, nur weil man uns vorher kein Visum geben will. Jedes Mal, wenn ich wieder höre, dass ein Boot untergegangen ist, fange ich an zu weinen.“
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Du sollst nicht töten.
Am 8. Mai 1945, heute vor 73 Jahren, endete endlich der Krieg des Deutschen Reiches mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, wenige Tage nach Hitlers Selbstmord. Damit wurde auch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft durch den Sieg der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und verbündeter Staaten mit militärischer Gewalt beendet.
Auch in Köln hatten die Nazis seit 1933 furchtbare Verbrechen verübt. Zu den Opfern gehörten Juden, Sinti, Roma, psychisch Kranke, Körperbehinderte, Kommunisten, Homosexuelle, Obdachlose und viele andere Gruppen von Menschen. Auch solche, die sich der Gleichschaltung widersetzten, wie zum Beispiel die Jungen und Mädchen der Edelweißpiraten. Aufgrund ihrer Identität wurden Menschen gekennzeichnet, vom Rest der Bevölkerung getrennt, eingesperrt, verschleppt, gequält und in Massen umgebracht. Die Ortsgruppe Köln der VVN-BdA hält durch Recherchen, Gedenkveranstaltungen, politische Gespräche und Aktionen seit 1946 die Erinnerung an Opfer und Täter wach.
Der Repression im Innern entsprachen die größenwahnsinnigen Eroberungskriege der Nazis, die sofort nach der Machtentgegennahme 1933 durch Rüstungsprogramme vorbereitet wurden. Der Krieg begann 1939 mit dem Überfall auf Polen und endete erst mit der Kapitulation 1945. Man schätzt die Gesamtzahl der Kriegstoten des Zweiten Weltkriegs auf 65 Millionen Menschen, davon über die Hälfte Zivilistinnen und Zivilisten. Auf die Sowjetunion entfielen wahrscheinlich 27 Millionen Tote, davon 14 Millionen Zivilisten und Zivilistinnen. In Polen gab es wahrscheinlich zwei Millionen zivile Opfer.
Viele Opfer in Polen und der Sowjetunion waren Juden. Auch 6 Millionen Deutsche waren umgekommen, davon waren mehr als 5 Millionen Soldaten. Es gab unzählige Verletzte und Verstümmelte, Millionen Hungernde, Obdachlose, verwüstete Städte.
Allein in der Weißrussischen Sowjetrepublik starb jeder Vierte der bei Kriegsbeginn zehn Millionen Menschen, darunter fast die gesamte jüdische Bevölkerung. Über zweihundert Städte und Tausende Dörfer wurden von den deutschen Invasionstruppen zwischen 1941 und 1943 völlig zerstört, ihre Bewohner von deutschen Mordkommandos umgebracht.
Viele der Siedlungen wurden nie wieder aufgebaut. Erst in den 1980er Jahren erreichte die Bevölkerungszahl wieder das Vorkriegsniveau.
Der hervorragende sowjetische Spielfilm „Komm und sieh!“ thematisiert diese Barbarei. Man kann ihn auf Youtube anschauen. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn ARD oder ZDF ihn zu einer vernünftigen Sendezeit einmal zeigen würden.
Wir wissen seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, wie die deutschen so genannten Einsatzgruppen im Osten den Massenmord an ganzen Familien organisiert und durchgeführt haben. Die politische und militärische Führung des Deutschen Reichs nahm das massenhafte Sterben von Flüchtenden durch Hunger und Kälte bei ihrem Ostlandkrieg billigend in Kauf. Die länger als zwei Jahre dauernde Blockade der sowjetischen Millionenstadt Leningrad durch die Wehrmacht hatte zur Folge, dass wahrscheinlich mehr als eine Million Menschen in der Stadt verhungerten.
Der Krieg Nazi-Deutschlands im Osten war anders als der Krieg im Westen. Der Ostfeldzug war ein Vernichtungskrieg – ein Rohstoffkrieg um landwirtschaftliche Nutz- und Siedlungsflächen und den Zugang zu Öl und Gas. Er war darauf angelegt, die eroberten Flächen zu entvölkern und dauerhaft mit so genannten deutschen Volksgenossen zu besiedeln. Von Anfang an war wirtschaftlich und rassistisch begründeter Massenmord Teil der Strategie. Es ging um „Blut und Boden“.
Während der Holocaust, also die Ermordung von über 6 Millionen europäischer Juden, auch dank israelischer Einrichtungen mittlerweile gut dokumentiert und im Bewusstsein der Menschen hier verankert ist, ist das Wissen über den Vernichtungskrieg, den die Wehrmacht im Osten führte, nicht so gut erforscht und in Deutschland nicht so präsent.
Für den Völkermord an slawischen Volksgruppen haben wir – anders als beim Holocaust – keinen Begriff. Die gesellschaftliche Erinnerung an die Verbrechen der Nazis hat in Deutschland eine schwere Schlagseite. Eine schwere Schlagseite hat auch die aktuelle deutsche Außenpolitik.
Die Bundesregierung misst Russland mit anderen Maßstäben als Israel. Das ist zwar verständlich, wenn man auf die Landkarte blickt und das winzige Israel mit dem größten Flächenstaat der Erde vergleicht. Es mag auch verständlich sein, wenn man die
Waffenarsenale beider Staaten miteinander vergleicht. Aber die Bundesregierungen erklären ihre unterschiedliche Politik nicht mit geographischen oder militärischen Unterschieden, sondern oft mit der besonderen Verantwortung, die aus der Tatsache des
Holocaust herrührt. Wenn das wirklich politikbestimmend ist, muss die deutsche Russlandpolitik die Tatsache des Völkermords an den Völkern der Sowjetunion, einschließlich der Russen, ebenfalls berücksichtigen. Anderenfalls wird die deutsche Außenpolitik unglaubwürdig; sie wird Misstrauen hervorrufen.
Aus der Rede von Außenminister Joschka Fischer, mit der er 1999 auf dem Parteitag der Grünen den Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen die Bundesrepublik Jugoslawien rechtfertigte, wissen wir, dass die NS-Gräuel für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg herhalten können: mit dem „nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz!“ wurden die NS-Opfer in einer abenteuerlichen Volte missbraucht, um neue Opfer zu rechtfertigen. Daher sind wir misstrauisch, wenn eine Bundesregierung sich sehr stark für bestimmte Opfergruppen einsetzt, andere aber weitgehend ignoriert. Es ist auch unsere Aufgabe als Friedensgruppen, auf solche Missverhältnisse aufmerksam zu machen.
Die Philosophin Hannah Arendt beobachtete als Gerichtsreporterin 1961 den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, einen der wichtigsten Organisatoren des Massenmords an den europäischen Juden. Sie hat ihr Forscherleben dieser Frage
gewidmet: wie konnten die NS-Verbrechen geschehen? Sie kommt zu der beunruhigenden Erkenntnis, dass es nicht besonders böse Menschen waren, die das getan haben, sondern eher durchschnittliche Personen. Das ist das Erschreckende: die
Mörder waren Leute wie Du und ich. Adolf Eichmann, der Organisator des industriellen Massenmords an den europäischen Juden, war keine Bestie. Hannah Arendt nannte das: die „Banalität des Bösen“.
In einer Vorlesung im Jahr 1965 erinnert sie an den „totalen Zusammenbruch aller geltenden moralischen Normen“ in der NS-Zeit und erläutert: „Es gab nicht nur die grauenhafte Tatsache der mit Sorgfalt errichteten Todesfabriken und das völlige Fehlen von Heuchelei bei jener sehr erheblichen Zahl [von Personen], die an dem Ausrottungsprogramm beteiligt waren. Gleich wichtig, doch vielleicht noch erschreckender war die selbstverständliche Kollaboration seitens aller Schichten der deutschen Gesellschaft, einschließlich der alteingesessenen Eliten, (…) die sich mit der Partei an der Macht niemals identifizierten. (…) Das Nazi-Regime hat in der Tat einen neuen Wertekanon angekündigt und ein ihm entsprechendes Rechtssystem eingeführt.“
Frühere Philosophen, auch Immanuel Kant, waren davon ausgegangen, dass jeder normale Mensch ein Gewissen als eine feste Orientierung in sich habe, um Gut von Böse zu unterscheiden. Hannah Arendt schließt aus ihrer Erforschung der NS-Zeit, dass dieses Gewissen eben kein absoluter Kern als Teil eines göttlichen oder natürlichen Gesetzes, sondern manipulierbar sei. Nach 1945 verschwand der NS-Wertekanon sofort und wurde im Wesentlichen durch das alte Wertegerüst ersetzt; darin sieht sie einen Beleg für die Richtigkeit ihrer Vermutung.
Ich schaue noch einmal auf die Skulptur der trauernden Mutter hier neben mir: Können wir sicher sein, dass wir die Orientierung behalten: dass wir immer wissen werden, was gut ist und was böse?
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Du sollst nicht töten.
Die Menschen, die damals die Mordmaschinerie in Gang hielten, waren aus demselben Stoff gemacht wie wir. Es war möglich, das Gewissen der Menschen massenhaft auszuschalten. Also könnten unter bestimmten Umständen auch wir Teil einer Mordmaschinerie werden.
Unter dem Eindruck des Grauens der zwei Weltkriege wurden 1945 die Vereinten Nationen gegründet. Die Charta stellt den gemeinsamen Wunsch der Nationen nach einer Welt ohne Krieg in den Vordergrund. Sie betont in der Präambel „den Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“, sowie an die „Gleichberechtigung (…) von allen Nationen“.
1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft gesetzt. Sein Artikel 1 lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. (…)“.
Auch die Verfassung des Landes NRW betont in der Präambel den „Willen, (…) dem inneren und äußeren Frieden zu dienen“.Der Wunsch, eine friedliche und gerechte Gesellschaft aufzubauen, war nach Kriegsende sehr stark und schlug sich in unseren Grundlagendokumenten nieder. Die Bevölkerung ist damit auch heute einverstanden. Krieg und Rüstungsexporte werden bei repräsentativen Umfragen mit einer stabil hohen Quote abgelehnt. Die enorme Aufrüstung, die deutsche Beteiligung an den zum Teil völkerrechtswidrigen Kriegen der USA, die Waffenexporte an Konfliktparteien, die Boykottierung des Atomwaffenverbotsvertrags der Vereinten Nationen durch die Bundesregierung: all das findet ohne die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit statt.
Trotz unserer weitgehend friedensorientierten Rechtsnormen und einer weitgehend friedliebenden Bevölkerung wagt es die Bundesregierung immer wieder, unmittelbar nach verbrecherischen Anschlägen vor die Öffentlichkeit zu treten und ohne Vorlage von Beweisen den Eindruck zu erwecken, sie wisse mit hinreichender Sicherheit, was genau passiert sei und welche Regierung die Verantwortung dafür trage. Es folgen entweder militärische Angriffe oder Drohungen oder Sanktionen gegen das Land der beschuldigten Regierung. Hier sind einige Beispiele:
– 2014 Abschuss der malaysischen Passagiermasc hine MH17 über der Ukraine ->Sanktionen und NATO-Aufrüstung gegen Russland;
– 2015 Attentate in Paris -> Anti-IS-Koalition in Syrien/Irak mit Bundeswehreinsatz,
– 2017 Giftgasvorfall in Chan Schaichun in Syrien -> US-Angriffe auf einen syrischen Militärflughafen;
– 2018 Anschlag auf den enttarnten früheren Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter in Salisbury -> Drohungen gegen Russland;
– 2018 Giftgasvorfall in Duma in Syrien -> Angriffe der USA, Frankreichs und Großbritannien auf militärische Einrichtungen in Syrien.
Die Attentate wurden bis heute entweder nicht aufgeklärt oder es fehlt eine Verbindung zu den in der Folge attackierten Ländern. Dass die Bundesregierung dabei eher die Rolle einer Mitläuferin in verschiedenen Allianzen mit anderen Staaten spielt, macht diese Politik nicht besser. Unerhört ist, dass diese rechtlich und moralisch verwerfliche Methode auch noch mit menschenrechtlicher Rhetorik verbrämt wird.
Im übrigen wirkt dieses Verhalten dermaßen konflikteskalierend, dass ehemalig hochrangige Außenpolitiker Mitte April 2018 in der FAZ öffentlich vor der „Gefahr eines dritten und letzten Weltkrieges“ warnten.
Es ist bisher nicht gelungen, Mitglieder einer Bundesregierung für Kriegstreiberei zur Verantwortung zu ziehen. Das hat mit den politischen Machtverhältnissen und der verfassungsrechtlichen Konstruktion des Generalbundesanwalts zu tun. Aber die
Entscheidungen der Bundesregierung in solchen Fällen betreffen Menschen wie Dich und mich, beispielsweise in der Ukraine, in Russland, in Syrien oder dem Irak. Was ist mit dem Gewissen der Menschen an den Schalthebeln der Macht passiert? Warum fällt ihnen das Drohen und das Töten so leicht, dass sie – den Eindruck macht es zumindest auf mich –
noch nicht einmal bedauern, Menschen getötet zu haben?
Was passiert eigentlich, wenn die Bundesregierung mit solchen moralischen und rechtlichen Verdrehungen auf Dauer durchkommt? Ändert sich dann massenhaft der moralische Kern der Bundesbürger? Werden wir dann wieder so ein Phänomen erleben wie 1933 – einen Zusammenbruch der moralischen Ordnung? Kann es sein, dass diese Gefahr nicht so sehr von der AfD ausgeht – so stark ist sie ja im Moment nicht -, sondern eher von den Führungsspitzen von CDU/CSU und SPD, die an der Macht sind, im Verein mit einigen Leitfiguren aus Wirtschaft, Medien und Wissenschaft?
Liebe Freundinnen und Freunde,
solche Fragen sind schaurig, aber wir alle, denke ich, sind Kämpfernaturen. Lasst uns das skizzierte Risiko als Ansporn nehmen, mit unserer Arbeit weiterzumachen. Anders als 1933 haben wir heute die UN-Charta, wir haben das Grundgesetz, auch die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen – alles Rechtsgrundlagen, welche die Regierenden zum Frieden verpflichten. Wir haben auch eine Bevölkerung, die man zwar zeitweilig aufhetzen und für dumm verkaufen kann, aber nicht auf Dauer. Wir haben einen großen Erfahrungsschatz, auch durch die jahrzehntelange Arbeit von ehrenamtlich tätigen Menschen der VVN-BdA. Wir wissen, dass das Böse selten als Teufel in Menschengestalt daherkommt; meistens sind Täter und
Tatmotive ganz banal. Das können und sollten wir als Chance für uns begreifen!
Lasst uns unser Gewissen pflegen, empören wir uns über Ungerechtigkeit und Rechtsbruch. Zeigen wir den Regierenden, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt, und wenn sie noch so oft mit „Staatsräson“ hantieren. Erinnern wir sie an das Grundgesetz und fordern wir seine Einhaltung ein – nach der Form und nach dem Geist, der ihm auch von Überlebenden der schandvollsten Zeit Deutschlands eingehaucht und wie ein Geschenk an uns übergeben wurde.
Schauen wir mutig nach vorn: wir haben die besseren Argumente!
Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!
Vielen Dank.“