Die Keupstraße in München

geschrieben von pp

5. Februar 2015

Gedenktafel

Als sich am späten Montagabend, dem 19.1. drei Busse Ecke Keupstraße/Schanzenstraße von Köln aus in Richtung München in Bewegung setzten, wurden nach alter türkischer Sitte ein Eimer Wasser hinter ihnen her geschüttet mit dem Wunsch, dass die Reise so gut verlaufe, wie das Wasser fließt.

Zuvor war eine türkische Musikgruppe spielend die Keupstraße rauf und runtergelaufen, um die Leute zur Verabschiedung der Busse zusammenzurufen. Der Musiklehrer einer Mülheimer Hauptschule hatte drei Bandkollegen zusammengetrommelt und sie spielten und sangen zum Abschied der über 150 Abreisenden – darunter 30 Schülerinnen und Schüler des benachbarten Gymnasiums.

So begann mit einem kleinen Volksfest, was sich nach 8-stündiger Fahrt vor dem OLG-München mit einer 11-stündigen Dauerkundgebung fortsetzte: die Begleitung der 22 NebenklägerInnen und weiterer ZeugInnen des Bombenanschlags in der Keupstraße zum NSU-Prozess nach München.

Der Tag im Gericht begann dann auch mit einem lange fälligen Eklat: als der Zeuge Melih K. ausführte, dass man kein Ermittler sein müsse, um herauszufinden, dass die Bombe unmöglich aus der Keupstraße stammen konnte, klatschten die Zuschauer Beifall und wurden vom Richter abgemahnt, sie hätten nur zuzuhören.

Aber je mehr man von den Berichten der ZeugenInnen und NebenklägerInnen hörte, umso mehr hätte man schreien können:

– Da war zum einen die brutale Wucht der Bombe: Türen flogen aus der Verankerung, die 10cm langen Zimmermannsnägel steckten in Autoblechen, noch in 5m Höhe in Hauswänden, flogen 150m weit, über die Häuser bis in die dahinter liegenden Gärten. Die Konstruktion der Bombe geschah in klarer Absicht, eine möglichst große Zahl von Menschen zu ermorden. Dass 22 Menschen zum Teil schwer verletzt, aber niemand getötet wurde, grenzt – angesichts der Sprengkraft der Bombe – an ein Wunder.

– Die Verletzten wurden in die umliegenden Krankenhäuser gefahren und dort wurden ihre Wunden versorgt. Als sie in die Straße zurückkehrten, berichteten zahlreiche Verletzte, dass sie sofort von der Polizei aufgegriffen und zum Verhör ins naheliegende Präsidium gefahren wurden. Der Ausdruck Verhör ist richtig, denn viele Befragten berichteten von ihrem Eindruck, dass sie eher als Verdächtige, denn als Zeugen befragt wurden. Auch vermuteten die Ermittler sofort Keupstraßen-interne Auseinandersetzungen: Sie fragten nach Konflikten in der Türsteherszene, nach Drogenhandel und der PKK. Manche, die um 16 Uhr verletzt wurden, frisch behandelt und traumatisiert waren, noch schwere Hörschäden von dem Knall aufwiesen, wurden bis in die Nacht verhört und konnten erst dann ihre Angehörigen benachrichtigen, dass man sie abholen konnte. Das war brutal und quälend.

– Diese Behandlung setzte sich sieben Jahre fort. Sieben Jahre wirkte Schilys am nächsten Morgen vorgenommene rassistisch motivierte Äußerung, in der er die Keupstraße als ein kriminelles Milieu bezeichnete und die dort lebenden Menschen der Tat verdächtigte. Einen terroristischen Anschlag schloss er schon nach 18 Stunden definitiv aus. Dasselbe Muster wie bei allen NSU-Morden vor und nach 2004. So haben die ZeugInnen berichtet, wie sie die Jahre unter den Verleumdungen gelitten haben. Wie ihre Geschäfte zurückgingen, weil niemand etwas mit dem „kriminellen Milieu“ zu tun haben wollte, wie sie darunter psychisch gelitten haben.

Für jede und jeden im Saal konnte es keine lebendigere Darstellung davon geben, was vom 9.6.2004, dem Tag des Anschlags, bis zum 4.11.2011, dem Tag der Selbstentlarvung des NSU, in diesem Land an rassistischen Verfehlungen passiert ist.

Und vor dem Gericht?

Schon ab 6:30 Uhr war die Sandstraße vor dem Gericht für den Verkehr gesperrt. Diejenigen, die die Nacht durch gefahren waren, wurden mit einem Frühstück empfangen. Lautsprecherwagen, Bühne, Videoleinwand und Transparentwände wurden aufgebaut. Immer mehr Leute, nicht nur aus München und Köln, sondern aus allen Orten, in denen der NSU gemordet hatte und von Soligruppen aus zahlreichen anderen Städten trafen ein. Den Tag über gab es Reden, Filme, Performances und Musikeinlagen ohne Ende. Bis abends wurden es über 1500 Menschen, die gemeinsam mit NebenklägerInnen und Angehörigen zum Abschluss zwei Stunden durch die Stadt demonstrierten.

Zwei Busse fuhren noch am Abend nach einem Imbiss im Theater Werkmünchen zurück nach Köln. Die 50 aus dem 3. Bus übernachteten und fuhren erst am nächsten Tag nach dem Prozess zurück. Allein aus Köln wurden über 100 Leuten ein Schlafplatz von den Münchner Freundinnen und Freunden zur Verfügung gestellt. Sie haben mit der Organisation der Kundgebungen an allen Tagen und mit der Betreuung und Versorgung der Angereisten Großartiges geleistet. Danke an alle!

Wir denken, dass die Vorbereitung des „Tag X“ und der weiteren 6 Prozesstage, an denen es um den Anschlag in der Keupstraße ging, und die hohe Präsenz in und vor dem Gericht gut dazu beigetragen haben, dass es in der Presse zahlreiche Interviews mit den NebenklägerInnen und Prozessberichte gab, die das Geschehen sehr eng verbunden mit den Erfahrungen der Betroffenen wiedergegeben haben und dass die rassistisch geprägten Ermittlungen so klar in den Fokus der Öffentlichkeit gerieten.

Nun bereiten wir uns auf eine entsprechende Präsenz zum jetzt beginnenden Untersuchungsausschuss in NRW vor. Und je nach dem weiteren Prozessverlauf wird vielleicht noch einmal ein größerer Auftritt notwendig sein. Sicher gibt es eine Reihe gemeinsamer Aktivitäten zum Abschluss des Verfahrens.

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